Donnerstag, 24. März 2011

Valparaiso


Nun ist es also soweit. Meine erste Fahrt an den Ozean. Als ich am Freitag gegen halb acht am Busbahnhof ankomme, beglückwünsche ich mich dass ich mir die Tickets zwei Tage davor besorgt habe, denn es herrscht ein Megagedränge und vor jedem der zahlreichen Schalter ewig lange Schlangen. Und dies obwohl allein nach Valparaiso von 'meiner' Busgesellschaft alle 10 min. (!!) ein Gefährt die gut 150 km angeht und es gibt noch mindestens fünf Wettbewerber - dabei handelt es sich um den kleinsten der Terminals der Hauptstadt. Die Busse sind alles Fahrzeuge der neuesten Generation, die beiden Fahrer tragen weise Hemden und Krawatte, das Gepäck tauscht man beim Beifahrer gegen ein Zettel ein und drin ist alles blitzblank sauber, als würde er gerade aus dem Werk kommen; und dies allem bei einem unschlagbaren Preis von nicht mal 10 Euro für Hin- und Rückfahrt. Wir begeben uns auch sofort auf die Autobahn und nach gut einer viertel Stunde passieren wir die etwas höhere Hügelkette die die Valle Central beschützt und fahren durch die ins sanfte Abendlicht getauchte Valle Casablanca und ihre Weisweinrebenreihen. Valparaiso erreichen wir bei Dunkelheit. Während ich mir mein Rucksack schnappe, verstreut sich die Schar der Mitfahrer schnell und ich mache mich auf Richtung Hostal. Obwohl es früher Abend ist, latsche ich durch eine menschenleere Hauptstrasse, zwischen geschlossenen Geschäfte und Restaurants und sehe höchstens mal ein Polizei- oder Militärfahrzeug. Das einzige was zu der gespenstischen Szenerie noch gefehlt hat, wäre etwas aufgewehter Staub und so ein runder, vertrockneter Strauch der quer über die Strasse rollt, wie man ihn in jedem Western mindestens drei mal zu sehen bekommt. Dann dämmert es mir: Tsunamialarm. Valpo besteht zu 5% aus einem schmalen Küstenstreifen und der Rest liegt verstreut auf den 42 sich dahinter recht steil erhebenden Hügel. Dieser am Wasser liegende Teil wurde komplett evakuiert, auch die paar Hotels die da liegen. Na wie gut das mein Hostal den Hügel Bellavista hoch liegt. Auch an dessen Aufgangsstrasse stehen die Carabineri und Armee und lassen Auto und Mensch hoch, aber nicht wieder runter. Da ich tagsüber so gut wie nichts gegessen hatte, bin ich natürlich mit einem ordentlichen Hunger und Durst angekommen, also erkundige ich mich bei der netten Hostalbetreiberin wo ich noch was bekommen könnte. Sie bestätigt mir dass unten alles geschlossen sei und empfiehlt mir ein weiter oben liegendes Restaurant, das eine unglaubliche Sicht über die Bucht haben soll. Versuche eine Volontärin anzurufen, die bereits nachmittags einen geschäftlichen Termin hier hatte und mit der ich mich eigentlich zum Abendessen treffen wollte. Als ich sie nicht erreiche, gehe ich davon aus dass sie gar nicht erst nach Valpo gekommen ist wegen dem Alarm; klar, denn sie ist einen Kopf kleiner als ich, also hätte das Wasser sie zu erst erwischt. Also mache ich mich allein an den immer steiler werdenden Aufstieg, vorbei an weiteren Uniformierten und erreiche kräftig atmend den Platz auf dem sich die Statuen der Nobelpreisträger Neruda und Mistral befinden und auch noch weiterer nicht prämierter Kunstschaffenden. Drehe eine Ehrenrunde und gehe dann in das empfohlene Restaurant. Bekomme eine Tisch an der Ausenkante der Terrasse zugewiesen, auf der mich nur eine mannshohe Panzerglasscheibe vom Abgrund trennt und sich mir ein umwerfender Blick über ganz Valpo und die dazugehörende Meeresbucht bietet. Durch das Schienennetz der Strassenbeleuchtungslaternen bewegen sich die Behördenautos mit ihren blinkenden Blaulichter wie die Dinger in PacMan. Obwohl es ein recht feiner Laden ist (und wahrscheinlich auch nur weil nicht besonders viel los ist), erlauben sich drei der Kellner immer mal wieder den Spaß sich in Reihe aufzustellen und mit Blick aufs Meer zu rufen: "Viene la óla!" um dabei auch die entsprechenden Handbewegungen zu machen. Hier nimmt keiner die Tsunamiwarnung ernst. Alle Experten waren sich einig dass falls überhaupt was ankommt, dann wird es eine 5 cm hohe Welle sein, die zwar mehr Wassermenge mitbringt als üblich, aber völlig kraftlos sein wird. Was die Behörden treiben, ist rein um zu zeigen dass sie was tun und wegen dem schlechten Gewissen vom letzten Jahr, als nach dem heftigen Erdbeben im Februar in Concepcion die Armee die Leute die dabei waren in die Berge zu flüchten zurückgepfiffen hat, nach dem Motto, es gibt kein Tsunami, mit der Konsequenz dass anschließend durch die Wassermassen weit mehr Menschen gestorben sind als durch das Erdbeben selber. Bloß ein einziges mal wird es still im Restaurant und Gäste und Personal starren gemeinsam aufs Wasser was sich tut: als das in der Mitte der Bucht thronende Kriegsschiff unter anhaltendem Horngetute seine lässige Position von längs zu den Wellen in quer zu den Wellen ändert und auch ein paar Fähren einige Meter rausfahren. Hatte aber offensichtlich keine weitere Bedeutung und alle gingen wieder ihren Beschäftigungen nach: die Gäste kauten, tranken, schmatzten und schwatzten und die Kellner bedienten, machten Späßchen und schwatzten mit.
Am nächsten Morgen schien wieder die Sonne und der ganze Tsunamispuk war vorbei. Bei Tageslicht konnte ich erst das Hostal erst so richtig bewundern. Der Name deutet das Aussehen an: Art Hostal Bellavista. Jeder der Treppen die hoch zum Eingang führen sind einzeln bemalt und seitlich davon bilden kleine Mosaiksteinchen meterlange Fabelwesen. Drinnen ist jedes der Zimmer einem anderen Künstler gewidmet und entsprechend angemalt. OK, für meinen Geschmack wurden fast ein bisschen zu grelle Farben ausgesucht und an der ein oder anderen Stelle könnte der Anstrich auch erneuert werden, aber die vier Meter hohen Zimmer, der Aufenthaltsraum in dessen Mitte sich eine riesige Ledercouchgarnitur  befindet und den Wänden an denen eine beachtliche Sammlung von Gegenstäden aus längst vergangener Zeit hängen, das ausgiebigen Frühstück und die humanen Preise gleichen dies alles mehr als aus. Frisch gestärkt mache ich mich an den Anstieg den ich ja schon vom Abend davor kenne, lasse den Platz mit den Statuen links liegen und erreiche so Nerudas Haus, denn natürlich hat sich der Meister den höchsten Punkt des Hügels Bellavista für sein Domizil ausgesucht. Die 4 Stockwerke hohe La Sebastiana liegt in einem nicht mal so kleinen, stufenweise angelegten Garten in dem Rosen blühen und diverse Bänke stehen, die aus einem Wettbewerb mit Bezug auf den Schriftsteller stammen. Der Vorteil hier ist dass man im Gegensatz zu Santiago, wo man in einem recht hohen Tempo im Ramen der Tour vorangetrieben wurde, allein rumrennt, sich somit so viel Zeit nehmen kann wie man möchte und doch alle Infos durch einen von netten Damen ausgehändigten Infophone mitbekommt. Wohnzimmer, Schlafzimmer und Arbeitszimmer liegen übereinander und geben alle einen weitschweifenden Blick über die Stadt und das Wasser frei. Direkt neben dem Wohnzimmer darf auch hier nicht die obligatorische Bar fehlen, hinter der Neruda seine Gäste bewirtete und auch einen eigenen Cocktail kreierte: Champagner, Brandy, Cointreau und Orangensaft. Selbstverständlich sind in jedem Zimmer Erinnerungsstücke von seinen vielen Reisen zu finden oder von persönlichen Freunden. Nimmt man Nerudas Haus in La Isla Negra noch dazu, das nicht kleiner oder gar bescheidener sein soll und bedenkt man dass er noch ein Viertes bauen wollte, wozu es nicht mehr kam, dann wird einem klar dass auch er etwas gleicher war als die Gleichen und wohl nicht so ganz das gelebt hat was er in den 40ern als Mitglied der Kommunistischen Partei und später als Sozialist und Anhänger Allendes predigte.
Die Sonne brutzelt herrlich aufs Fell, also beschliese ich einen Großteils des Tages im Freihen zu verbringen, die unterschiedlichsten Hügel auf- und abzusteigen um so die Stadt zu erkunden und die Aussage aus Lonely Planet zu überprüfen die besagt: "Die UNESCO hat es bestätigt: Ganz Valparaiso ist eine Sehenswürdigkeit.". Und tatsächlich: was aus der Perspektive des nerudaschen Wohnzimmers wie ein Meer aus Farbkleksen von bunten Häusern ausgeschaut hat, stellt sich aus der Nähe als eine Sammlung von einzelnen Kunstwerken heraus. Die Mehrheit der Gebäude sind in ihrer Ganzheit mit Bildern bemalt oder besprüht. Manche mit realistischen Darstellungen, andere phantasievoll. Manche gelungen, andere weniger. Dazwischen immer wieder prachtvolle Kolonialvillen und Parks. Und an jeder Ecke ist entweder ein Schnapsladen oder ein Atelier das auch Kurse anpreist. An der ein oder anderen Stelle zeigt Valpo ihre morbide Seite: einst schöne Gebäude die einfach dem Verfall überlassen werden; und auch ihre unschöne Seite: unbebaute Hügelteile die richtig zugemüllt sind. Es sei erwähnt dass ich die ganzen Strecken bergauf/bergab immer zu Fuß zurückgelegt habe und kein einziges mal mit Hilfe eines der zahlreichen alterwürdigen, scheppernder, quitschenden Ascensores geschummelt habe - nicht dass ich kein Vertrauen in die Ingenieurskunst von vor 150 Jahren hätte. Entsprechend wird es auch Zeit den Flüssigkeitshaushalt auszugleichen, bevor ich einen der höchsten Hügel der Stadt in Angriff nehme. Dazu wähle ich das Cinzano aus, ein Traditionsladen der Stadt. Abends singen hier schon lang erloschene Stars und aus deren Glanzzeit, nein, aus der ihrer Eltern oder Großeltern, stammt auch das ganze Inventar, incl. der Barmännern. Am beeindruckendssten sind die Kühlschränke, wahre Monster der Kühltechnik. Sie scheinen elektrisch zu funktionieren, auch wenn ich den Eindruck habe hier wurden einst noch Eisblöcke händisch eingelegt. Kennt einer die Folge in der Al Bundy während eines heißen Sommers, nach langem Flehen seiner Familie bereit ist eine Klimaanlage zu kaufen? Da er knausrig ist, kauft er natürlich was altes, dafür aber billiges. Beim Auspacken zu Hause stellen sie fest das auf dem Ding in Schrankformat seitlich "Besitz von Erwin Rommel" eingeprägt ist. Nun, diese Kühlschränke stammen wohl aus dem selben Nachlass.
Bereits in der Mitte des Cerro Carcel bin ich schon auser Puste und die Autos im ersten Gang auch. Der Hügel heist so, weil sich darauf der Knast von Valpo befand. Als diesr aufgegeben wurde, haben sich sofort Künstler das Gelände geschnappt und dort ilegale Ausstellungen, Happenings etc veranstaltet. Anscheinends wurden sie verscheucht, denn alles ist abgesperrt und drinnen sind irgend welche Renovierungsarbeiten im Gang. Ob diese dazu dienen sollen das Gefängniss wieder in Betrieb zu nehmen oder was anderes bezwecken ist nicht festzustellen. Also dann, weiter aufwärts zur höchsten Stelle, der Plaza Bismarck. Von hier hat man einen der schönsten Panoramablicke über die ganze Szenerie, wenn mir nicht immer wieder Schweisperlen die Sicht verderben würden. Halb verhungert erreiche ich wieder Meeresspiegelniveau und gehe schnurstraks in einen Laden der in dem bereits erwähnten Reiseführer mit den Worten "fehlende Finesse wird durch die Größe der leckeren Fleischportionen ausgeglichen" beschrieben wird. Die Aussage stimmt nur zur Hälfte: das Stück aus dem toten Getier ist groß und fein und ich fühle mich auch gut bedient, ganz im Gegenteil, der aufmerksame Kellner hat mir auf Nachfrage nicht das Teuerste auf der Karte empfohlen, sondern dasjenige wo Preiß / Leistung stimmt.
Nach weiterem Rumlatschen durch die Strassen sind ich und meine Beine uns einig dass es für Heute gut is und nun etwas sitzen angesagt sei. Bevor es dazu kommt, werde ich an einen Tisch gewunken, von einem lustigen Gespann aus einem Holländer und einem Kanadier, die mich wohl Nachmittags im Cinzano gesehen haben. Sie hatten schon einige Bier und sind in richtiger Erzähllaune. Befreundet seit 18 Jahren, machen sie spätestens jeden zweiten Urlaub gemeinsam, ohne ihre Frauen. Ginge beim Kanadier auch nicht, denn er ist zum dritten mal geschieden. Der Holländer ist zum zweiten mal verheiratet, diesmal mit einer Amerikanerin. Der Kanadier scheint richtig Asche zu haben (Ich hatte Glück mit paar Geschäften), den er verbringt die Winter immer in Costa Rica. Da er europäischer Abstammung ist (Mutter Deutsche, Vater Tscheche) wechselt die Sprache in denen Themen wie Tsunami, Lybien, Frauen etc. beleuchtet werden regelmäsig zwischen Englisch, Spanisch und Deutsch. Zwischendurch wird auch noch ein Amerikaner an den Tisch rangeschrieen, den sie auch von irgendwo her kennen und der aussieht als könnte er Wyatt Erp spielen; tatsächlich war er auch 15 Jahre lang bei der Polizei. Die beiden verabschieden sich schwankend, aber nicht bevor sie dem blinden Straßenmusikanten, der mit Gitare und Mundharmonika dem Blues frönt, einen Stapel seiner selbsgebrannten CDs abkaufen und diese an mich und weitere Gäste großzügig verteilen.
Den Sonntag will ich dem unteren Teil der Stadt widmen, dem der am Wasser liegt. Als erstes finde ich mich auf der Plaza Sotomayor wieder, wo noch mal deutlich wird dass Valparaiso der Hauptsitz der chilenischen Marine ist: das größte und eindrucksvollste Gebäude ist das des Marinekommandos und in der Mitte des Platzes tront ein überdimensionales Denkmal der gefallenen Marinesoldaten; lebendige Exemplare davon flankieren es zu allen Seiten und trotzen stoisch der aufgekommenen Hitze. Von der sich lang hinziehenden Bucht bin ich enttäuscht, den wie ich finde hat es hier die Stadtverwaltung verpasst mehr daraus zu machen. Das Einzige was man sieht, ist ein vierspurige Schnellstrasse. Keine Bars, Clubs, Restaurants oder auch nur einfache Strandbuden von denen aus man mit einem kühlen Getränk in der Hand aufs Wasser starren kann. Bevor ich also noch mehr Abgase statt frischer Meeresluft einatmen muss, drehe ich dem Wasser den Rücken zu und besteige doch noch einen Hügel, mit dem Ziel den Palacio Baburizza zu besichtigen, in dem sich das Museo de Bellas Artes befindet. Allein das Gebäude hat den Aufstieg gelont (erwürdige Parkettböden, Bleiglasfenster, Stuck und in jedem Raum ein Kamin); die Sammlung ist als eher bescheiden zu bezeichnen. Da es schon später Nachmittag ist, geht es wieder den Hügel runter und in eines der im Reiseführer empfohlenen Meeresgetierrestaurants. Es ist gut was los, den Sonntags gehen ganze chilenische Familien gern und ausgiebig essen, aber ich ergattere noch ein Plätzchen. Die Bedienung legt mir den Meeresfrüchteteller ans Herzen und ich vertraue ihr. Ich werde nicht enttäuscht: was auf meinem Tisch landet ist etwas in Größe eines Pizzatellers und aus der Ferne sieht es auch so aus als würden darauf Pizzaecken liegen. Blos dass hier der "Teig" von grünem Salat gebildet wird und die Dreiecke die sonst aus Soße, Belag und Käse bestehen unterschiedlichste frische Meeresfrüchte sind. Das Ganze mit einem leichten Sauvignon Blanc runtergespühlt und es stellt sich ein zufriedenes Grinsen ein. Auf dem Platz vor dem Restaurant lasse ich mir für eine Viertelstunde noch die Sonnenstrahlen auf den verdauenden Ranzen scheinen und dann bin ich bereit im Hostal mein Rucksack abzuholen, zum Busbahnhof zu gehen und die Fahrt nach Santiago anzutreten. Dort angekommen erfahre ich dass wir am Montag eine neue Mitbewohnerin haben: eine brasilianische Stewardess.

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